Meine logopädische Arbeit mit Kleinkindern und Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren findet auf entwicklungspsychologischer Basis nach dem Ansatz von Dr. Barbara Zollinger aus der Schweiz statt. Einen kleinen Einblick, wie die Entwicklungspsychologie mit der Logopädie in Verbindung steht und wie dies therapeutisch gehalten wird, möchte ich Ihnen im folgenden Artikel vermitteln.
Erste Konflikte: „Nein“ hören – „Nein“ sagen
Das kleine Wort „nein“ ist eines der bedeutendsten Wörter in der frühkindlichen Entwicklung. Mutter und Baby leben zunächst in einer Symbiose, die jedoch im Laufe der Entwicklung aufgelöst werden muss. Zunächst versteht die Mutter ihr Kind blind und kann jeden Wunsch am Klang des Weinens oder Schreiens erkennen, was dem Baby das Überleben sichert. Zugunsten der Individuationsentwicklung gilt es jedoch, diese Symbiose aufzulösen. Hierzu benötigt ein Kind im Laufe seines Lebens ein klares und liebevolles „nein“. Das Kind muss von seinen Eltern „Nein, das darfst du nicht!“ hören, damit es erkennen kann „Meine Mama will etwas anderes als ich. Meine Mama ist eine eigenständige Person. Ich bin eine eigenständige Person.“
Damit sind wir in der Individuationsentwicklung des Kindes angekommen. Es erfolgt die Loslösung von Mutter und Kind, hin zu einer eigenen Person, zu einem eigenen Ich. Das Kind erkennt seinen eigenen Willen, sein eigenes Ich. Es lernt im Alter von 12-18 Monaten selbst „nein“ zu sagen, so dass es später mit ca. 30-36 Monaten auch „ich“ sagen kann.
Warum trotzen Kinder?
Doch sanft geht dieser Entwicklungsschritt nicht vonstatten. Denn die Erkenntnis, dass die Mutter, jetzt nicht mehr so möchte, wie das Kind, und dem Kind ihren eigenen Willen präsentiert, geht mit der bekannten Trotzphase einher. Die Trotzphase beginnt etwa im Alter von 18 Monaten und hat im Alter von zwei bis drei Jahren ihren Höhepunkt. Das Kind schreit und brüllt – bei Bedarf auch in der Öffentlichkeit. Der Klassiker findet filmmäßig an der Supermarktkasse statt.
Eine Geduldsprobe? Gar peinlich?? Ja, schon, denn alle Augen sind auf das Kind und die Eltern gerichtet und die Irritierung steht den Anwesenden meist ins Gesicht geschrieben.
Doch wenn wir nicht bewerten, sondern entwicklungspsychologisch deuten, dann ist Ihr Kind auf genau dem richtigen Entwicklungsweg:
- Es hört ein „nein“.
- Es trotzt.
- Es lernt selbst „nein“ zu sagen und sich abzugrenzen.
- Es entdeckt sein eigenes Ich und
- lernt „ich“ zu sagen!
- Das „Ich“ löst die sogenannte Verbzweitstellung im Satz und somit die Verbesserung der Satzlänge aus. Das Kind kommt von „Kuchen essen“ zu „Ich esse Kuchen.“
Dies ist die Schnittstelle zwischen Entwicklungspsychologie und Logopädie, die in der entwicklungspsychologischen Sprachtherapie nach Barbara Zollinger zum Tragen kommt.
Wenn Kinder verspätet trotzen oder nicht trotzen
Kinder, die im Alter von zwei bis drei Jahren nicht getrotzt haben, holen dies im Laufe ihrer Entwicklung nach. Doch machen Sie sich bewusst, dass ein vier- bis fünfjähriges Kind in einer anderen Energie, mit einer anderen Wucht trotzt als ein Zweijähriges. Manchmal trotzen Kinder, denen das Trotzen in der entsprechenden Entwicklungsphase aus diversen Gründen und vielleicht auch ganz unbewusst untersagt wurde, auch erst sehr spät, z. B. im Vorschul- oder Grundschulalter. Doch in dieser Zeit ist Lernen angesagt und so kann ein verspätetes Trotzen zu Problemen im Schulalltag führen.
Deshalb, auch wenn es mühsam und unangenehm ist, nehmen Sie das Trotzen Ihres Kindes als wichtigen Entwicklungsschritt an, begegnen Sie diesem Verhalten in liebevoller Klarheit nach dem Motto: „Ich verstehe, dass du wütend bist und ich will etwas anderes als du.“ Muten Sie Ihrem Kind Ihr Ich zu und erinnern wir den Religionsphilosophen Martin Buber, der den Satz prägte: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
Nehmen Sie das Trotzen bitte auch als Liebesbeweis Ihres Kindes an, das Ihnen unbewusst sagt: „Ich kann mich dir zumuten so wie ich bin. Ich bin mir deiner Liebe ganz sicher.“
Trotzen in der Logopädie
Kinder trotzen auch bei mir in der logopädischen Therapiesituation. Gelegentlich brüllen und schreien sie und schmeißen mir Gegenstände entgegen. Ja, ich bin stets irritiert und schaue, dass ich dann die Fenster geschlossen halte. Doch mein Ziel ist es, den Kindern einen sicheren Therapierahmen zu schaffen, in welchem sie sich auch mir in ihrer Ganzheit zumuten können. Trotzten die Kinder bei mir in der Logopädie nicht, würden wir uns a) nicht reiben, (Das sich miteinander Reiben ist wichtig für die Entwicklung der Reibelaute/ Frikative: /f/, /s/, /sch/, /ch/) oder b) wäre ich zu streng.
Fazit:
Das Trotzen ist ein wesentlicher Entwicklungsschritt, der Auswirkungen auf die Ichentwicklung, das Sozialverhalten, sowie die Sprachentwicklung Ihres Kindes hat und gefeiert werden will wie der erste Schritt in der motorischen Entwicklung oder das erste Wort in der Sprachentwicklung. Nicht ohne Grund ziert der Spruch
„A little rebellion now and then is a good thing”
meine Eingangstür.
In diesem Sinne: Frohes Trotzen! Wenn nicht jetzt, wann dann?
Bei Fragen zur Sprachentwicklung Ihres Kindes können Sie mich gerne kontaktieren. Für ein erstes logopädisches Beratungsgespräch stehe ich Ihnen gerne persönlich in meiner logopädischen Praxis in Augsburg oder telefonisch unter 0821 – 449 639 43 zur Verfügung.